Crossroads of Rock’n’Roll: Tielmann Brothers

Indonesien: Die musikalische Reise der Gitarre beginnt

Die musikalische Reise beginnt in Surabaya. Portugiesische Seeleute hatten im 17. Jahrhundert die Gitarre nach Indonesien gebracht und mit ihren Fado- und Saudadeliedern auch den Blues der Portugiesen. Die Kraft und Faszination dieser Musik übte bald einen großen Einfluss auf die heimische und traditionelle Gamelanmusik aus. Die Fados boten den einheimischen Musikern einfach eine bessere Möglichkeit Melodien und Liedern eine Struktur zu geben. Mit dem „neuen“ Musikinstrument „Gitarre“ konnte man nun Gruppen bilden, die kleiner und flexibler als die heimischen traditionellen Ensembles waren.

Mehr und mehr entwickelte sich im Lauf der Zeit die einheimische populäre Musik zu eine Art Melange europäischer und südostasiatischer Klänge. Dass mit dieser ganzen Entwicklung auch sehr gute Voraussetzungen für das spätere Einklinken in eine ganz andere musikalische Welt geschaffen wurde, konnte um diese Zeit natürlich noch niemand wissen.


Aufbruch der 50er Jahre

Mit Ende des zweiten Weltkrieges standen für Indonesien große Änderungen an. 1949 gaben die Niederländer ihre Kolonialherrschaft in Indonesien auf. Der „american way of life“ mit all seinen Facetten hielt auch in Indonesien Einzug und so drehten sich bald auch hier die Rock`n`Roll- Scheiben auf den Plattentellern. Die indonesischen Teenager und Twens bevölkerten die Kinos in Scharen, um wenigstens für einige Stunden ganz nahe an den amerikanischen Film- und Musikidolen der damaligen Zeit zu sein. Gerade in dieser Aufbruchzeit der 50er Jahre übersiedelten viele einheimische indonesische Familien vor allem aus politischen Gründen in die Niederlande, um sich dort eine neue Existenz zu schaffen.

Natürlich übte die westliche Mode und die rebellische Kultur der damaligen Zeit ihre große Faszination gerade auch auf die jungen Einwanderer aus. Es entwickelte sich für diese Generation – die sich irgendwo in diesem Spannungsfeld zwischen den Kul- turen einjustierte – ein Soundtrack einerseits rebellisch wie der Rock`n`Roll aber andererseits gut gewürzt mit einer ordentlichen Prise ihrer traditionellen, für unsere Ohren auch exotischen, Musik.

Indo-Rock aus den Niederlanden

Die Musik kam in den Niederlanden gut an und unzählige indonesische Bands schossen wie die Pilze aus dem Boden. The Crazy Rockers, The Javelins, The Black Dynamites, The Strangers, The Meteors, Oety & His Real Rockers, The Tielman Brothers. Bis zu achtzig Rock`n`Roll Bands soll es damals in den Niederlanden gegeben haben. Der Name für diesen eigenwilligen Musikstil ließ nicht lange auf sich warten: „Indo-Rock“. Dass sich hinter all diesen vielen Bandnamen oft berührende Familienschicksale verbargen zeigt beispielhaft der Werdegang der Tielman Brothers. Sie waren sicher die innovativste und erfolgreichste Band dieser Art und in dieser Zeit und waren das große Vorbild vieler Indorock-Bands.

 

The Tielmann Brothers

Herman Tielman und Flora Lorine Hess hatten schon 1945 in Indonesien mit ihren fünf Kindern Jane, Reggy, Ponthon, Andy und Loulou ein kleines Familienunternehmen gegründet. Herman Tielman war als Hauptmann und Quartiermeister in der KNL (Königlichen Holländisch-Indonesischen Armee) und begann nach der Entlassung aus einem japanischen Kriegsgefangenenlager sich seinen vielfältigen musikalischen Talenten zu widmen. Da er anscheinend auch seinen Kinder einiges davon mit auf den Weg gegeben hatte, wurde schließlich 1945 die Familienband „The Timor Rhythm Brothers“ in Surabaya aus der Taufe gehoben. Die Kinder waren zu der Zeit zwischen 9 und 12 Jahre alt und hatten sich bereits jetzt schon die Instrumente in den Kopf gesetzt, die sie auch später weiterhin ihr ganzes Leben lang spielen sollten. So wollte Ponthon von Anfang an den großen Standbass spielen, Reggy hatte sich das Banjo ausgespäht, dem kleinen Loulou hatte es das Schlagzeug ganz besonders angetan, Andy war für die Leadguitar zuständig und die kleine Schwester Jane rundete das Ganze mit ihrem stimmlichen Talent ab. Der Vater Herman war der Manager und Gitarrist der Band, während sich die Mutter um das Erscheinungsbild und für die Präsentation der Gruppe kümmerte.

Beim ersten Auftritt überraschte man Freunde der Familie mit einem erlesenen Repertoire. So hatte man mit „Tiger Rag“ und „2th Street Rag” die Messlatte für den ersten Versuch bereits ganz schön hoch gelegt. Bald schon tourte die Gruppe durch das ganze Land. Sie präsentierten eine volkstümliche Show aus einer Mixtur von traditioneller Musik, heimischen Tänzen und Kostümen und feierten große Erfolge. Es gab 1949 sogar ein Gastspiel im Palast von Präsident Sukarno in Djakarta.

Bald änderte sich aber das musikalische Interesse der Band. Die Magie und Vitalität der immer mehr populär werdenden Musik aus der „Neuen Welt“ beeindruckte diese jungen Talenten nachhaltig. Andy erzählte dass der „Guitar Boogie“ von Arthur Smith die kleine Band so begeisterte, dass sie sich fortan dem Rock`n`Roll mit Haut und Haaren verschrieben. Schon bald spielten sie Stücke von Les Paul, Elvis, Little Richard, Bill Haley, Fats Domino, Chuck Berry und Gene Vincent.

1957 übersiedelte die Familie Tielman mit dem Schiff nach Holland in der Hoffnung, hier eine neue Heimat und bessere Zukunft zu finden. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Auftritte 1958 auf der Brüsseler Weltausstellung, ein Gastspiel auf dem Münchener Oktoberfest, Fernsehauftritte bei den damaligen deutschen Showgrößen Peter Frankenfeld und Hans Joachim Kulenkampff folgten.

Nirgendwo in Europa gab es noch so eine wilde, extatische, dabei aber präzise, hochmusikalische und artistisch perfekte Rock`n`Roll Band.

Lange Zeit vor Jimi Hendrix spielte Andy seine Soli mit der Gitarre hinter dem Rücken, auf den Schultern, mit den Zähnen oder mit den Füßen. Jedes einzelne Bandmitglied hatte seine Showtricks und sie hinterließen nach ihren Auftritten ein staunendes, fassungsloses und jubelndes Publikum. Was die Indorocker hier vom showtechnischen her vom Stapel laufen ließen, war wirklich erste Sahne. Mit unterschiedlichen Saitenstimmungen und zusätzlichen auf die Gitarre montierten Saiten erzeugten sie oft mit drei Gitarren gleichzeitig einen ganz eigenen Sound, der ihren extatischen Showeinlagen noch eins drauf setzte.

 

Deutschlands Bar- und Nachtklubszene

Für die meisten Indorock-Bands wurden die Niederlande bald zu klein und so wollten viele Indorocker es den Tielman Brothers gleichtun und versuchten in der seit Ende der fünfziger Jahre schnell wachsenden deutschen Bar- und Nachtklubszene ihr Glück.

Unter den vielen Auftrittsmöglichkeiten, die es damals in ganz Deutschland gab war die damalige Garnisonsstadt Hanau im Rhein-Maingebiet in den frühen sechziger Jahren für viele Nachtschwärmer und Vergnügungssüchtige geradezu ein Paradies. Viele Bands schätzten diese Szene als einen wichtigen Stützpunkt. Aus der Nachkriegssituation heraus waren hier in und um Hanau etwa 30.000 amerikanische Soldaten stationiert, die in einem „Städtchen“ von etwa 45.000 Einheimischen nach Freizeitangeboten, sprich interessantem Nachtleben suchten. Die Amerikaner hatten auch mit dem Skyline Club, dem NCO und dem Rainbow ihre eigenen Clubs. Hier wurden sie von renommierten Größen wie Bill Haley and the Comets, den Everly Brothers, Duane Eddy, Bobby Vee, Ben E. King und vielen anderen unterhalten. Dennoch zog es viele Soldaten besonders an den pay-days, in den immer üppiger wachsenden Hanauer Nacht-Dschungel.
Es waren zu einem großen Teil ungebundene junge Wehrpflichtige, die mit dem damaligen Wechselkurs Dollar-DM von eins zu vier die Puppen tanzen lassen konnten. So etablierten sich ab etwa 1958 sehr schnell eine Menge Bars, Striplokale und Nachtklubs mit täglichem Programm.

Mein Schulweg in die Pestalozzi Volksschule führte von der Langstraße über den „Paradeplatz“ (Freiheitsplatz) vorbei am Kino „Central Theater“ und dort, wo heute gegenüber ein Hochhaus steht, war damals in den Freiflächen vor den Ruinen eine kleine barackenähnliche Bar als bayerische Alm herausgeputzt. Das war die erste Bar in Hanau, die ich bewusst wahrnahm. Da ich gerade als Erstklässler in der Schule Lesen und Schreiben lernte, habe ich sehr schnell herausgefunden was über der Eintrittstür stand: „Hax’n abkratzn!“ Hier gingen wahrscheinlich amerikanische Soldaten in eine ganz andere Schule und lernten, wie gut das deutsche Bier schmeckte und wie reizend die deutschen „Frauleins“ waren.

Schon bald hatten sich Stadtteile zu regelrechten Vergnügungsvierteln entwickelt. Der Bereich um die Krämerstraße und Heumarkt war jetzt das „hessische St. Pauli“, die Lamboystrasse „Klein Chigaco“. Auf dem Lamboyfest, das im „Lambewald“ in der Nähe der Kasernen über die Bühne ging, wurde besonders Elvis bei den Kettenkarussells und den Autoscootern rauf und runter gespielt.

Wer eine echte amerikanische Levis Bluejeans kaufen wollte musste mit dem Zug bis nach Frankfurt fahren. Dort konnte man für 19,50 DM Besitzer einer echten Levis werden. Der Rock`n`Roll war angekommen.

Etwa 1955 fingen in Hanau die ersten Lokale mit Live-Musik an und ab 1958 ging es dann richtig los. In den Jahren zwischen 1959 und 1964 beherrschten vor allem die renommierten indonesischen Bands, aber auch weniger bekannte Indo Bands die Hanauer Live Clubszene. Die ungekrönten Könige dieser Szene waren die Tielman Brothers, „die Tielmänne“, wie sie respektvoll von ihren Fans genannt wurden. Etwas außerhalb an der Leipziger Straße hielten sie in der Jolly-Bar Hof und das Volk kam von weither um ihnen zu huldigen.

 

Harte Arbeitsbedingungen für Bands in Hanau

Hanau war für viele Musikfans von nah und fern zum Anziehungspunkt geworden und verwies sogar die benachbarte Großstadt Frankfurt in die Schranken. Außer der Jolly Bar gab es noch eine ganze Menge anderer Musikbars in ganz Hanau verteilt. Die innerstädtische Gegend um die Krämerstrasse und den Heumarkt mit der City Bar und der Moonlite Bar waren ein Kernbereich, um den sich auch Striplokale ansiedelten wie der Yachtclub und das Moulin Rouge. Die Arbeitsbedingungen waren für die Musiker hart. Die Bands wurden für einen Monat verpflichtet, der Auftritt begann zwischen 20 und 21 Uhr. Nach einem Spielset von 45 Minuten wurde eine Pause von 15 Minuten gemacht. So gingen die Auftritte täglich bis zwei oder drei Uhr früh und an Sonntagen ging es bereits nachmittags weiter. In einem Schaufenster vor dem jeweiligen Lokal wurden die Musiker durch Fotos vorgestellt.
Die Übernachtungsmöglichkeiten waren nicht mit Luxus ausgestattet, sondern dürften nach Erzählungen von ehemaligen Musikern Hundehüttencharakter gehabt haben.

Leider habe ich aus Altersgründen nie die „Tielmänne“ live in der Jolly Bar gehört. Ich habe nur einmal Andy Tielman im Restaurantbereich vom Hanauer Schwimmbad mit zwei Schönen der Nacht gesehen.

Was ich nicht vergessen werde, war mein erster Streifzug durch die Hanauer Nachtklubszene mit meinem Gitarrenkumpel Bernd aus Ravolzhausen. Wir waren damals zwischen fünfzehn und sechzehn Jahre alt und standen unmittelbar davor, eine Beatband zugründen. Wir wollten uns einfach mal ansehen, was da so in den verschiedenen Schuppen ablief. Zu einem engen Finanzbudget kam auch ein sehr enges Zeitbudget. Da am nächsten Morgen die Schule mit mathematischem und lateinischem Unbill drohte und die strengen Jugendschutzbestimmungen eigentlich gegen unseren Streifzug sprachen, beschlossen wir uns ein Zeitlimit bis 22 Uhr zu setzen. Die Eltern wurden natürlich nicht informiert, welche Ausrede wir damals für unsere fachliche Exkursion hatten fällt mir nicht mehr ein. Der Streifzug begann in der Jolly Bar, wo eine damals noch nicht so bekannte Band mit dem Namen „The Lords“ auftreten sollte, und endete in der Moonlite Bar in der Krämerstraße. Dort hörten wir unsere erste Indorock-Band.

Wir hatten vorab mitbekommen, dass in der Moonlite Bar die schönsten Animiermädchen sein sollten und dass so manche Stripperin vom nahegelegenen Yacht Club in ihren Auftrittspausen vorbei kam, um die Band anzuhören. So etwas interessierte uns und musste geprüft werden.
Fazit der damaligen Nacht: Die Bands waren alle fantastisch ausgestattet. Echolette Gesangsanlagen mit Bandecheo, Verstärker der Marke Fender, die Gitarristen hatten alle Fender Jazzmaster Gitarren.

Mit dem Wort Fender konnten wir erst mal nichts anfangen, da wir das eigenwillige amerikanische Logo als 7ender (Siebenender) deuteten. Die weiblichen Crews waren insgesamt beachtenswert, für uns aber leider aus Altersgründen noch unerreichbar. Ziel: wir mussten unsere Framus Wandergitarren ausmustern und uns mit elektrischen Gitarren und Verstärkern munitionieren. Schließlich erlaubten uns eines Tages die Indorocker von der Moonlite Bar zweimal auf Ihrer Anlage und sogar mit ihren Instrumenten zu spielen. Dabei mussten wir aufpassen, dass wir nicht zu lange in dem Club blieben, da die Polizei vermehrt kontrollierte. So kam die ganze Band mit Klausi, Lutz, Bernd und mir in den aufregenden Genuss mit teuren, elektrischen Gitarren, richtigen Verstärkern, einem echten Schlagzeug und einer Gesangsanlage aufzutreten. Durch meinen jugendlich ungestümen Anschlag der rechten Hand flog mir beim ersten Auftritt gleich die hohe E-Saite um die Ohren. Die Indonesier waren gutmütige Menschen und der Sologitarrist von ihnen quittierte meine destruktive Spielleistung mit einem vieldeutigen Lächeln.

Eines Abends fragte mich der zweite Leadgitarrist der Band, ob ich nicht an seiner alten Gitarre Interesse hätte. Die Indonesier hatten sich ja damals alle auf die Fender Jazzmaster eingeschossen. Die Finanzierungsgespräche mit meinen Eltern gestalteten sich als äußerst schwierig und zäh, aber schließlich ging dann doch noch zu einem guten Preis die weiße Fender Stratocaster „Angel“ in meinen Besitz über. Der junge Indorocker spendierte mir noch eine Cola, der Kauf war perfekt und ich war tagelang auf Wolke sieben.

Irgendwie spürten wir aber schon damals um 1964 und 1965, dass der Wind sich drehte. Die Bands in den Hanauer Bars waren mit ihrer Musik plötzlich nicht mehr am Puls der Zeit.


Beat: Das Ende des Indorocks

Die Popularität der Indorocker begann in Hanau immer mehr zu schwinden. Der Beat aus England rollte ungebremst an. Wer jetzt diese „neue“ Musik live hören wollte ging in die Polizeisporthalle am Freiheitsplatz, wo die „Krauts“ oder die „Beachers“ aus Frankfurt ihren „Beat“ aufspielten. In Frankfurt hatte man sogar die Möglichkeit im „Arcadia“, dem „K52“ auf der Kaiserstraße oder im „Storyville“ internationale und authentische top Beatbands zu hören. Die Eröffnung des Club Studio Luxemburg der ersten Hanauer Disco am Heumarkt war der Anfang vom Ende dieser nicht immer hasenreinen aber doch sehr lebendigen und spannenden Epoche mit den Indorock-Bands. Die virtuosen wilden Indorocker kamen immer seltener und blieben eines Tages ganz weg.

Ich bin 1966 von Hanau nach Freising umgezogen und habe langsam Hanau aus den Augen verloren, aber nie vergessen.
Umso mehr habe ich mich über einen tollen Film auf Arte gefreut: „Roll over Hanau“. Daniel Siebert, ein junger Regisseur aus Hanau, hat mit seiner Dokumentation einen sehr feinfühligen und atmosphärischen Film über diese Zeit gedreht. Es kommen kompetente Zeitzeugen aus verschiedenen Generationen und auch mit unterschiedlichen Blickwinkeln zu Wort. Allen ist die Liebe zur Musik gemeinsam. Mit einem dieser „Zeitzeugen“ bin ich über Daniel in Kontakt gekommen. Helmut Wenske, Hanaus Rock`n`Roller der ersten Stunde mit großem Herzen und fotografischem Gedächtnis hat mir noch einiges erzählen können. Helmut hatte das wirklich große Glück alles unmittelbar am Puls der Zeit mitzuerleben und daraus auch als Künstler Inspiration zu finden.

Helge Köckert